«Schweizer Personalvorsorge» 03/21 Langlebigkeit und Sterblichkeit

«Wenn Männer und Frauen im Schnitt 150 Jahre alt werden, muss das Konzept des Rentenalters neu überprüft werden»

Bei der Berechnung der Altersrenten in der 2. Säule geht es immer auch darum, auf der Grundlage geeigneter Modelle die Lebenserwartung und die Sterblichkeit zu ermitteln. Wir haben dieses Thema mit Prof. Dr. Séverine Arnold von der Universität Lausanne diskutiert: Sie ist seit vielen Jahren Expertin auf diesem Gebiet und befasst sich in ihrer Forschungsarbeit mit Langlebigkeit und Mortalität.

Séverine Arnold, ordentliche Professorin in Versicherungsmathematik an der Universität Lausanne

«Vor kurzem ist es Forschern gelungen, Mäuse zu verjüngen. Wenn diese Methode auf Menschen übertragen werden könnte, würde dies unglaubliche Umwälzungen bewirken.»

 

 

 

Interview: Anne Yammine

Das Problem der Langlebigkeit und der Sterblichkeit ist eines Ihrer zentralen Forschungsthemen. Was ist bei der Analyse dieser beiden Phänomene zu beachten?

Es gibt Tausende von Modellen zur Ermittlung von Langlebigkeit und Sterblichkeit. Jeder Experte und jede Forscherin wird Ihnen je nach verwendeter Hypothese oder gewähltem Modell sehr unterschiedliche Projektionen vorlegen.

Kann die Lebenserwartung zuverlässig vorhergesagt werden?

Nein. Wir wissen nicht, wie die Zukunft aussehen wird. Projektionen basieren ausschliesslich auf Hypothesen. Deswegen muss man die Hypothesen, die man verwendet, gründlich verstehen. So gehen zahlreiche Modelle von der Annahme aus, dass sich vergangene Entwicklungen in der Zukunft wiederholen werden.

Wir wagen jetzt mal die Frage: Wie wird sich die Lebenserwartung in den nächsten Jahren in der Schweiz entwickeln?

Die Lebenserwartung scheint weiterhin anzusteigen, doch der Anstieg verlangsamt sich. Wenn wir aber von Lebenserwartung sprechen, müssen wir auch beachten, dass es unterschiedliche Lebenserwartungen gibt: Es gibt zum Beispiel die Lebenserwartung bei der Geburt, deren Anstieg sich immer mehr abschwächt oder gar rasch verlangsamt. Es gibt aber auch jene mit 65 Jahren, die insbesondere die Pensionskassen für die Berechnung ihrer Altersrenten interessiert. Die Lebenserwartung beim Erreichen des Pensionsalters steigt weiterhin an, und dies rascher als die Lebenserwartung bei der Geburt.

Stellen Sie in Bezug auf die Lebenserwartung Unterschiede zwischen Männern und Frauen fest?

Bei den Frauen fällt die erwartete Lebensdauer höher aus. Doch die Schweizer Männer sind dabei, sie einzuholen. Dies wird auch in anderen Ländern, wie beispielsweise in Spanien, beobachtet. Die Differenz zwischen Männern und Frauen bleibt aber immer noch recht gross.

Welche Faktoren wirken sich auf die Entwicklung der Langlebigkeit aus?

Man muss zwischen positiven und negativen Faktoren unterscheiden. Als Beispiel für positive Faktoren erwähne ich beispielsweise den medizinischen Fortschritt, die gesündere Lebensweise und Ernährung sowie die sinkende Prävalenz bestimmter negativer Faktoren. Bei den negativen Faktoren sind mangelnde Bewegung, Essstörungen und steigendes Übergewicht zu nennen, dazu gehören auch Pandemien – wie wir sie seit einem Jahr in extremem Ausmass erleben. Darüber hinaus dürfen wir auch Kriege, Naturkatastrophen oder fehlenden sozialen Zusammenhalt nicht vergessen, wie dies jüngst in den USA zu beobachten war. Am schwersten ins Gewicht fällt aber das Erreichen unserer biologischen Grenzen.

Was meinen Sie damit?

Immer mehr Todesfälle ereignen sich aus Gründen, die mit dem Alter zusammenhängen. Wir sterben, wenn unsere biologische Grenze erreicht wird, das heisst. wenn unser alt gewordener Körper nicht mehr mitmacht.

Werden wir eines Tages ewig leben?

Ihre Frage spricht ein zentrales Thema an. Das Wissen, dass wir in Zukunft in der Lage sein werden, medizinisch in den Alterungsprozess einzugreifen, ändert alles. Werden wir das Älterwerden aufhalten können? Werden wir uns gar verjüngen können?

Wie würden Sie diese Fragen beantworten?

Man könnte die Fragen verneinen, da man davon ausgeht, dass dies im System, in dem wir aktuell leben, nicht möglich sein wird. Positive Antworten sind aber durchaus denkbar: Vor kurzem ist es Forschern gelungen, Mäuse zu verjüngen. Wenn diese Methode auf Menschen übertragen werden könnte, würde dies ungeahnte Umwälzungen bewirken.

Was heisst das?

Theoretisch könnte der Mensch 1000 Jahre alt werden. Optimisten gehen davon aus, dass dies bald eintreten wird, dass die meisten von uns diese Entwicklungen noch erleben werden.

Wie würde sich eine solche Entwicklung auf unser Vorsorgesystem auswirken?

Wenn Männer und Frauen im Schnitt 150 Jahre alt werden, muss das Konzept des Rentenalters neu überprüft werden. Das aktuelle System würde nicht mehr funktionieren. Man könnte zum Beispiel statt dem chronologischen Alter einer Person ihr biologisches Alter berücksichtigen.

Dies würde bestimmt auch unsere Wahrnehmung des Berufslebens völlig auf den Kopf stellen?

Absolut, man müsste völlig umdenken: Wenn die Menschen länger leben und arbeiten, könnten sie regelmässig – und nicht erst am Ende ihres Berufstätigkeit – arbeitsfreie Sabbaticals einlegen. Unsere ganze Gesellschaft müsste neu konzipiert werden.

Und was würde dies für das Rentensystem bedeuten?

Wenn unsere Lebenserwartung weiterhin ansteigt, müssen Renten über einen längeren Zeitraum ausbezahlt werden. Die Pensionskassen müssten folglich ihre Finanzierung neu gestalten. Es würden auch andere Kosten im sozialen System anfallen, wie beispielsweise ein höherer Pflege- und Betreuungsaufwand. Auch diese Kosten würden steigen.

Wie wären diese Kosten zu finanzieren?

Man könnte sich eine Finanzierung über eine Spezialversicherung vorstellen, wie dies in einigen Ländern, wie zum Beispiel in Deutschland, bereits geschieht. Es ist aber auch eine gemeinsame Finanzierung durch den Staat und Privatversicherungen denkbar.

Sind Sie persönlich angesichts dieser Entwicklung eher optimistisch oder pessimistisch?

Ich denke, wir werden unser Bild von alten Menschen, unsere Wahrnehmung vom Alter verändern müssen. Ältere Menschen können und müssen bereits heute viel stärker in die Gesellschaft integriert werden. Sie besitzen zahlreiche Fähigkeiten und insgesamt eine unglaubliche Erfahrung. Das Alter wird oft als etwas Negatives wahrgenommen. Es ist nun aber Zeit, diesen Abschnitt in unserem Leben viel positiver zu sehen, mit allen Möglichkeiten, die er noch zu bieten hat.

 

Mehr zum Thema:

In der Ausgabe von März 2021 befasst sich die «Schweizer Personalvorsorge» mit den Herausforderungen der Langlebigkeit und den verschiedenen Sterblichkeitsmodellen. Im April wird in der SPV das 3-Säulen-System einem Härtetest unterzogen. In dieser Ausgabe analysieren wir in einem weiteren Interview mit Prof. Dr. Séverine Arnold die aktuellen Herausforderungen im Vorsorgebereich sowie die Rolle der Frauen in der 2. Säule.