«Schweizer Personalvorsorge» 10/23: Digitalisierung und Cybersicherheit

Digitalisierung ist nicht das Problem

Ein Streitgespräch zwischen Philipp Sutter und Lukas Müller-Brunner, zwei Kennern der Materie über die Digitalisierung in der beruflichen Vorsorge, Glaubensfragen und die Macht der Künstlichen Intelligenz (KI).

KI wird schon heute eingesetzt, auch in der 2. Säule, im Dienst der Effizienz und der Automatisierung. Welche Stolpersteine sehen Sie?

Lukas Müller-Brunner: Den Menschen. Ich glaube nicht daran, dass wir alle Versicherten und ihre Bedürfnisse abholen können mit einem einzigen Tool. Es gibt so viele individuelle Situationen. Wenn wir den Menschen miteinbeziehen, macht eben nicht eine pauschale Lösung Sinn. Es geht um Vertrauen. Darum muss es weiterhin möglich sein, dass die Leute zum Telefon greifen.

In der Praxis sind es vor allem Rentnerinnen und Rentner, die sich für Ihre Pensionskasse interessieren. Ist das Grund genug, alte Systeme weiterhin zu betreiben?

Müller-Brunner: Wir sollten nicht mit Zwang arbeiten, denn die einzelne Vorsorgeeinrichtung weiss sehr wohl, was die Destinatäre wollen. Sie kann anhand dieser Bedürfnisse eine passende Lösung finden. Ich wehre mich dagegen, dass morgen idealerweise alles nur noch digital sein soll und dass es dann keine Probleme mehr gäbe. Das ist illusorisch.

Philipp Sutter: Aber die Basis muss das Portal sein. Der Versicherte muss sich, je nach Typ und je nach Fragestellung, mehr oder weniger selbständig vorbereiten können, bevor er zum Telefon greift. Das darf nicht optional sein. Es gibt eine Emanzipation. Digitalisierung funktioniert anders, indem man neue Bedürfnisse/Angebote schafft, nicht bestehende befriedigt.

Wie würden Sie vorgehen?
Sutter: Die 2. Säule sollte Spezialisten von aussen reinholen, die nichts mit der Branche zu tun hatten. Es funktioniert nicht, wenn 2.-Säule-Spezialisten versuchen, Digitalisierungsexperten zu werden. Wir müssen von aussen Leute reinholen, die wissen, wie man die Digitalisierung vorantreibt. Auf keinen Fall sollten wir die Versicherten kontaktieren und fragen, was fehlt euch? Die Antwort lautet natürlich: Nichts. Auch hier kann von anderen Branchen gelernt werden.

Müller-Brunner: Entscheidend ist, dass man sich selbst fragt, welche Informationen über welchen Kanal man den Destinatäre zukommen lassen will. Da erhalten wir pauschal nicht immer die gleiche Antwort: Ich wehre mich gegen eine Lösung, die man der ganzen Branche, losgelöst von individuellen Bedürfnissen, aufstülpen will.

Gegenüber der KI gibt es viele Ängste - nicht nur jene, dass der eigene Job abgeschafft wird. Welche Knacknüsse sehen Sie hier?

Sutter: Den Datenschutz. Denn KI basiert darauf, dass Abfragen und Eingaben von Usern genutzt werden, um den Lernprozess der Systeme voranzutreiben. Sprich: Wenn ich ChatGPT etwas frage, gebe ich potenziell persönliche Daten preis.

Das ist die Währung der 2. Säule, die persönlichen Daten.

Sutter: Deshalb muss man speziell den Datenschutz sehr ernst nehmen. KI-Systeme sind in der Beratung von Destinatären längst angekommen. Das zweite Risiko, das ich im Kontext der 2. Säule sehe, ist, dass jemand seine Pensionierungsplanung von der KI machen lässt und dann nur auf dieser Basis einer Entscheidung fällt. Deshalb bin ich wie Herr Müller der Meinung, dass es das Angebot des persönlichen Vorsorgegesprächs auch in Zukunft braucht.  

Müller-Brunner: KI als Werkzeug auf dem Weg der Digitalisierung? Da bin ich sofort dabei. Bei der Auffangeinrichtung ist man heute schon relativ weit, ein Teil der Prozesse wird tatsächlich «dunkel» verarbeitet, also automatisch. Aber was passiert mit den anderen Fällen? Jene Fälle, die man nicht dunkel verarbeiten kann, sind die arbeitsintensiven. Dort braucht man pro Fall plötzlich deutlich mehr Zeit, mehr Knowhow, noch besser ausgebildete Leute. Ich glaube nicht an die Idee, dass wir das System irgendwann dazu bringen, alles selbst zu machen. Stattdessen nehmen wir jene Prozesse, die wir dunkel oder mit KI verarbeiten können und lassen diese so laufen. Dann können wir die gut ausgebildeten Leute bei den Fällen einsetzen, die nicht so verarbeitet werden können. Dann machen wir das System hocheffizient und das sind wir allen schuldig.

Wie helfen Sie den Pensionskassen auf diesem Weg der Digitalisierung?

Müller-Brunner: Ich glaube nicht an Druck, sondern an die Wirkung des Markts und an die Effizienz. Mir scheint auch die Theorie abwegig, dass es Leute gibt, die ein aktives Interesse haben, sich gegen die Digitalisierung zu wehren, aus Angst vor Jobverlust. Die Vorsorgeeinrichtungen haben sehr wohl ein Interesse, möglichst effizient zu sein.

 

Sutter: Ich bin auch ein Verfechter des Markts und lasse mich nicht in die Ecke des Regulierungsgläubigen drängen. Am Schluss ist es der Druck von aussen, der gewisse Player dazu zwingt, etwas zu tun, aber sicher nicht eine innere Überzeugung, geschweige denn eine proaktive Initiative. Ich habe sehr viele Vorsorgeeinrichtungen gesehen. Ganz konkret ist es oft ein Personalwechsel an der «richtigen Stelle», der eine Entwicklung plötzlich möglich macht.

Müsste der Verband hier nicht forscher das Tempo vorgeben?

Müller-Brunner: Nein, das wäre anmassend. Die Bedürfnisse werden regeln, welche digitalen Angebote sich durchsetzen. Das können wir gut oder schlecht finden - das nützt überhaupt nichts. Es braucht weder den Verband noch den Regulator, noch einen einzelnen Anbieter, der hier irgendwas pusht.

Gibt es etwas, das Sie stattdessen eher pushen möchten?

Müller-Brunner: Ja, aber es hat nur am Rande mit Digitalisierung zu tun: Dass man unter den Playern mehr miteinander spricht. Im Moment gibt es sehr viele Akteur, die sich Digitalisierung auf die Fahne schreiben und im kleineren Kreis miteinander diskutieren. In vielen Fällen haben sie sogar gute Ideen. Was mir fehlt, ist die Koordination dieser Kreise, dass man eben versucht, gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

 

Neulich erzielte die 2. Säule bei einer Umfrage die Note 6 auf einer 10-er-Skala, auf die Frage, wie sicher das Geld bei Pensionskassen sei. Kann hier die Digitalisierung helfen?

Müller-Brunner: Achtung, da sprechen wir von verschiedenen Dingen. Diese Frage zielt auf das Vertrauen in das Vorsorgesystem. Da gebe ich offen zu, dass ich da viel mehr Bauchschmerzen habe als bei der Frage nach Digitalisierung. Wenn man die Leute fragt, ob ihr Geld sicher sei, fragt man nicht nach «End-to-End»-Verschlüsselung bei Datenaustausch, sondern nach dem Vertrauen in das System. Wenn es da bröckelt, ist dies ein Grundproblem wie bei jeder Versicherung. Dann ist die Digitalisierung unser kleinstes Problem.

Sutter: Digitalisierung ist nicht das Problem - Digitalisierung sollte Teil der Lösung sein: Digitalisierung hat unter anderem den gigantischen Vorteil, effizient und schnell in jedes Destinatär-Wohnzimmer zu gelangen. Warum haben Leute Sorgen über ihre Vorsorge? Weil sie zu weit weg sind, weil ihre Informationsquelle der «Blick» oder das Schweizer Fernsehen sind. Dort steht nicht das Wohl vom einzelnen Versicherten im Vordergrund, sondern irgendwelche Agenden. Die Digitalisierung ist hier vielleicht sogar der Königsweg, um näher zu den Versicherten zu kommen. Nehmen wir z.B. eine BVG-Reform: Die grosse Chance würde doch darin liegen, dass jede Pensionskasse ihre Destinatäre direkt, individuell informieren würde: Um was geht es wirklich? Und was für konkrete Auswirkungen hätte die Reform auf meine Vorsorgesituation? Dann könnten wir alle sorgenfrei in den Abstimmungskampf ziehen.

Alles kann die Digitalisierung wohl auch nicht lösen.

Müller-Brunner: Ich finde diesen Gedanken im Kern spannend und teile die Einschätzung, dass Kommunikation mit den Leuten das Vertrauen wiederherstellen wird. Wenn die Leute Zweifel haben am System, dann fehlen ihnen wahrscheinlich auch die entsprechenden Informationen. Die BVG-Reform müssen wir aber wohl ausnehmen: Dass einzelne Kassen Abstimmungsempfehlungen abgeben, dürfte kaum sinnvoll sein. Was wir hingegen schaffen müssen, ist, die Leute über die vielen Vorzüge der zweiten Säule zu informieren und da kann Digitalisierung tatsächlich helfen, da bin ich einverstanden.

Wie Pensionskassen sich und ihre Daten schützen können

Dies ist der zweite Teil eines Gesprächs, das im September 2023 in Zürich geführt wurde. Der erste Teil des Interviews wurde in der Oktoberausgabe der «Schweizer Personalvorsorge» publiziert, im Akzent zum Thema «Digitalisierung und Cybersicherheit».