«Schweizer Sozialversicherung» 2/20 - IV-Revision

Es könnte ja sein...

Gedanken eines langjährigen Akteurs in den Sozialversicherungen zur laufenden Revision des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung.

Das Bundesparlament wird an der kommenden Frühlingssession voraussichtlich die Vorlage «Weiterentwicklung der IV» zu Ende beraten. Die angestrebten Zielsetzungen und die beschlossenen Massnahmen sind jedoch nicht deckungsgleich.

Man darf sich mit Fug und Recht fragen, ob nicht auch folgendes passieren könnte. Es könnte ja sein...

Neue Liste der Geburtsgebrechen samt seltenen Krankheiten

Es könnte ja sein, dass die heutige relativ fixe Liste der Geburtsgebrechen eine klare Leitlinie zwischen der Krankenversicherung und der IV war. Dass nun aber - gedrängt durch die medizinischen Fachschaften, die Behindertenorganisationen und die Elternorganisationen sowie die Krankenkassen – eine massive Ausweitung der Übernahmepflicht erfolgt. Alles, was selten ist; alles, was ab Geburt erkennbar und behandelbar ist, könnte von der IV übernommen werden. Es könnte ja sein, dass die WZW Kriterien (wirtschaftlich, zweckmässig und wirksam) keine genügenden Bremselemente liefern. Es könnte ja sein, dass dadurch ein massives Kostenwachstum zu Lasten der IV erfolgt.

Es könnte ja sein, dass das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) in Verletzung jeder Good Governance zugleich Aufsichtsbehörde und Tarifbehörde ist. Es könnte ja sein, dass die zunehmende Politisierung des BSV dazu führt, dass Tariffragen politisiert werden. Es könnte ja sein, dass die Politik aufgrund einiger weniger skandalisierter Fälle weiche Knie erhält und faktisch immer mehr Leistungen zu Lasten der IV übernommen werden.

Jugendliche beim Übergang in Berufsleben unterstützen

Die obligatorische Schule ist Sache der Kantone. Die Berufswahl ist eines der krönenden Elemente der Volksschule. Es könnte ja sein, dass durch eine zunehmende Verordnung von Psychopharmaka an Jugendliche die Idee entsteht, dass jeder Jugendliche mit Problemen zwischen Schul- und Werkbank ein kranker Mensch ist. Dass also die Sozialversicherung hier primär die Verantwortung tragen muss - und beim Misserfolg eben eine ‹Kompensation› durch Taggelder und Renten erfolgen muss. Es könnte ja sein, dass die IV in eine ‚mission impossible‘ geschickt wird. Es könnte ja sein, dass dies erhebliche Zusatzkosten generiert.

Beratung und Begleitung von psychisch Beeinträchtigten ausbauen

Die Heilbehandlung und die Rehabilitation ist gemäss dem schweizerischen Sozialversicherungskonzept eindeutig Sache der Krankenversicherung. Es könnte ja sein, dass nun die IV unter dem Titel Begleitung schon in den Kliniken und Ambulatorien die faktische Rehabilitation machen muss. Es könnte ja sein, dass diese sehr individualisierten Massnahmen auch sehr kostspielig sind. Und es könnten ja sein, dass beim Misserfolgsfall die IV auch gleich die Rente zahlen kann. Und bei mindestens der Hälfte auch gleich noch die Ergänzungsleistungen zur IV anfallen.

Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Ärzten verstärken

Dieser Auftrag ist eine hoch personalisierte Aufgabe. Es könnte ja sein, dass die einseitige Verpflichtung der IV, nicht aber der Arbeitgeber und der Ärzte dazu führt, dass im Fall des Scheiterns eben die IV die Verantwortung für das Scheitern des Einzelnen übertragen werden kann. Und sie soll doch dann auch gleich für die Existenzsicherung (IV-Rente und EL) besorgt sein.

Stufenlosen Rentensystem zwischen 40 und 70 Prozent IV-Grad

Es könnte ja sein, dass neu die versicherte Person mit einem Invaliditätsgrad von 57 Prozent nicht einverstanden ist und einen IV-Grad von 59 Prozent als sachgerecht betrachtet. Es könnte ja sein, dass er irgendwelche Gründe dafür auf ein Blatt Papier schreibt. Es könnte ja sein, dass sie deshalb den Rechtsweg beschreiten. Es könnte ja sein, dass dadurch die Rechtsmittelverfahren vor den kantonalen Versicherungsgerichten und dem Bundesgericht um 50 Prozent ansteigen könnte. Es konnte ja sein, dass dies mit erheblichen Mehrkosten verbunden ist.

Es könnte auch sein, dass rechtskräftige Entscheide ultraschnell in Revision gezogen werden müssen. Die versicherte Person könnte – wie schon erwähnt – einfach mal sagen, dass eben 48 Prozent nicht mehr stimmt, sondern sicher 54 Prozent angemessen seien – die Gesundheit hat sich verschlechtert. Es konnte ja sein, dass die IV-Stellen mit Revisionsgesuchen geflutet werden. Es könnte ja sein, dass der eine oder andere auch den Rechtsweg beschreitet.

Kinderrenten

Es könnte ja sein, dass die Kinderrenten nicht von heute 40 Prozent der Grundrente auf 30 Prozent gesenkt werden. Es könnte ja sein, dass damit das einzige fassbare Einsparpotenzial der Reform wegfällt.

Ressourcen der IV-Stellen

Die Ressourcen der IV-Stellen sind vom Bund auf dem Stand 2012/2013 eingefroren. Es könnte ja sein, dass deshalb keine Innovation möglich ist, weil damit Investitionen verbunden sind. Es könnte ja sein, dass ohne entsprechende Finanzen keine Investitonen getätigt werden können. Es könnte ja sein, dass die neuen Werkzeuge des Gesetzgebers mangels Handwerker nur unzureichend angewendet werden können. Es könnte ja sein, dass die weder für die Versicherten noch die Arbeitgeber (=Wirtschaft) einen Mehrwert bietet.

Pessimismus pur?

Es könnte ja sein, dass der Autor - gegen Ende seiner beruflichen Laufbahn innerhalb der Sozialversicherungen - von einer relativ langen Berufserfahrung zehren darf. Es könnte aber auch sein, dass er sich vollkommen irrt. Es könnte ja sein.

Deshalb: Nehmen wir die IV-Zahlen 2019 und schauen dann in fünf und dann in zehn Jahren nochmals. Es könnte ja sein, dass sich dann etwas aufzeigt.

Mehr dazu im Heft

In der «Schweizer Sozialversicherung» erfahren Sie mehr zu den Massnahmen der Weiterentwicklung der IV sowie deren möglichen Folgen.