Die Sozialversicherungen haben sich entwickelt
Früher gang und gäbe, ist es heute die Ausnahme, dass ein Arbeitnehmer von der Berufslehre bis zur Pensionierung mit einem 100-Prozent-Pensum bei demselben Arbeitgeber angestellt bleibt. Heute sind Stellenwechsel, ob freiwillig durch die Karriereplanung, aufgrund von Entlassungen oder technischen Entwicklungen, an der Tagesordnung. Auch privat ist der Weg nicht mehr von jungen Jahren an klar definiert. Verliebt, verlobt, verheiratet war der Lauf der Dinge. Heute kommt es aber immer häufiger nicht mehr zur Verlobung. Und auch, dass Ehen geschieden werden, ist bald eher Regel als Ausnahme.
In unterschiedlichen Lebensabschnitten entstehen somit unterschiedliche Bedürfnisse an finanzielle Freiheit oder Absicherung. Mit all diesen Entwicklungen versuchen die Sozialversicherungen Schritt zu halten, um zu verhindern, dass jemand durch das soziale Netz fallen kann. Diese Entwicklungen werden in den Sozialversicherungen unterschiedlich deutlich. Hier daher ein paar Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
AHV/IV
Die AHV ist die Mutter aller Sozialversicherungen und bildet zusammen mit IV und EL die 1. Säule des Drei-Säulen-Systems. Ihr sind alle in der Schweiz wohnhaften Personen unterstellt. Damit sind im Grundsatz alle beitragspflichtig und alle haben Anspruch auf Leistungen.
- Zwar gibt es ein gesetzliches Rentenalter, 65 für Männer und 64 für Frauen, aber sowohl in der AHV als auch der beruflichen Vorsorge können sich die Versicherten für eine frühzeitige oder eine spätere Pensionierung entscheiden.
- Für jede in der Schweiz wohnhafte Person wird ein individuelles Konto geführt, das bei der Pensionierung für die Berechnung der individuellen Rente herangezogen wird. Neben den geleisteten Beiträgen werden dort auch Betreuungsgutschriften oder Beiträge des Ehepartners angerechnet.
- In der IV wird – unter bestimmten Voraussetzungen – ein Assistenzbetrag ausgerichtet. Dieser ermöglicht den Betroffenen, selbst zu entscheiden, wen sie für ihre Unterstützung anstellen möchten, und damit auch ein selbstbestimmteres Leben.
Berufliche Vorsorge
Zur 2. Säule des Drei-Säulen-Systems zählen die berufliche Vorsorge sowie die obligatorische Unfallversicherung. Beide Versicherungen sind an eine Erwerbstätigkeit gebunden und stehen in direktem Zusammenhang mit dem Arbeitgeber. Insbesondere das BVG und die darüberhinausgehende reglementarische Vorsorge erlauben den Versicherten einigen Spielraum für individuelle Entscheidungen.
- Eine wichtige Individualisierung stellt das Freizügigkeitsgesetzt (FZG) dar. Es garantiert den Versicherten beim Wechsel des Arbeitgebers und damit dem Wechsel der Vorsorgeeinrichtung die Mitnahme des eigenen Vorsorgekapitals als Freizügigkeitsleistung. Diese umfasst die geleisteten Beiträge (Arbeitnehmer und Arbeitgeber) sowie die Verzinsung.
- Zudem steht es jedem Versicherten bei der Pensionierung frei, mindestens einen Viertel seines Alterskapitals in Kapitalform zu beziehen.
- Beim Erwerb von (selbstbewohntem) Wohneigentum kann Kapital aus der beruflichen Vorsorge zur Finanzierung beigezogen werden.
- Bei Scheidung (vor oder nach der Pensionierung) wird das Vorsorgekapital respektive die Rente zwischen den Eheleuten aufgeteilt, damit beide auch eigenständig über eine ausreichende Vorsorge verfügen.
Mutterschaftsentschädigung
Die Mutterschaftsentschädigung garantiert den Frauen während des Mutterschaftsurlaubs für 14 Wochen ein Ersatzeinkommen. Vorausgesetzt, die Mutter beabsichtigt die Weiterführung der Erwerbstätigkeit, bleibt ihr so ihr eigenes Einkommen, und die Familie ist nicht einzig und allein auf das Einkommen des Kindsvaters angewiesen. Zurzeit wird im Parlament zudem ein zweiwöchiger Vaterschaftsurlaub diskutiert, der dem Vater eine bessere Teilhabe an der Betreuung des Säuglings ermöglichen soll.
Krankenversicherung
In der obligatorischen Krankenversicherung nach KVG sind Prämien und Leistungen klar geregelt. Doch auch hier haben die Versicherten die Möglichkeit, ihren individuellen Bedürfnissen entsprechend Entscheide zu fällen.
- Um die Prämien zu senken, kann anstelle der Standardfranchise von 300 Franken eine höhere Franchise bis 2500 Franken gewählt werden. Im Gegenzug übernimmt der Versicherte ein höheres finanzielles Risiko.
- Ebenfalls tiefere Prämien können durch eine Einschränkung der Wahl des Leistungserbringers (zum Beispiel Hausarztmodell) erreicht werden.
Es kann also festgehalten werden, dass in den Sozialversicherungen für alle Versicherten die gleichen Regeln gelten. Hier und dort ermöglichen sie den Versicherten aber, sich für gewisse Optionen zu entscheiden, die ihrer individuellen Situation Rechnung tragen. In anderen Fällen wie dem Vorsorgeausgleich bei Scheidung kann der Versicherte nicht selbst entscheiden. Das Gesetz garantiert ihm aber, dass er sich als geschiedenes Individuum weiterhin auf eine gute Altersvorsorge verlassen kann.
Mehr in der Zeitschrift
Weitere Artikel zum Thema Individualisierung der Gesellschaft und Sozialversicherungen lesen Sie in der Ausgabe 2/19 der «Schweizer Sozialversicherung».