«Schweizer Personalvorsorge» 2/20 - Interview mit Martin Hubatka

«Was für das ganze System eine Stärke ist, macht die Sache für den einzelnen Versicherten komplizierter»

In der Diskussion zur laufenden BVG-Reform kommt immer wieder die Frage auf, wie weit die Bevölkerung die 2. Säule versteht. Ein Gespräch mit jemandem, der diese Frage beantworten kann: Der Pensionskassen-Experte Martin Hubatka hat den Verein für kostenlose BVG-Auskünfte gegründet und war lange Jahre dessen Präsident.

Interview: Kaspar Hohler

Auf einer Skala von 1 (keine Ahnung) bis 10 (Experte), wie schätzen Sie die BVG-Kenntnis der Schweizer Bevölkerung ein?

Ich würde eine 4 geben, mehr leider nicht. Wenn man mit dem Mann und der Frau auf der Strasse redet, dann merkt man, dass der Kenntnisstand relativ tief ist und die wichtigen Zusammenhänge nicht verstanden werden.

Wieso kennt man dieses zentrale Vorsorgewerk nicht besser?

Einerseits ist die Materie enorm komplex, die Zusammenhänge sind schwierig zu verstehen. Andererseits ist das Interesse kaum da. Erst wenn man sich der Pensionierung nähert oder wenn eine Kündigung oder ein plötzlicher Leistungsfall eintritt, kümmert man sich um seine Pensionskasse. Dann stellt man leider oft fest, dass die Vorsorge nicht ausreicht.

Ist das Verständnis der 2. Säule auch eine Bildungsfrage?

Tendenziell ja, aber noch mehr eine Sprachfrage: Gerade fremdsprachigen Menschen ist das hiesige Sozialversicherungssystem generell und die 2. Säule im Speziellen häufig nicht vertraut. Diese Personen erreichen Sie kaum mit schriftlichen Informationen. Hier ist das persönliche Gespräch, vielleicht noch mit ihren Kindern als Dolmetscher, oft der einzige Weg. Generell bemühen sich die Pensionskassen stark, ihren Versicherten mehr Informationen besser zu vermitteln, auch über interaktive Möglichkeiten. Dennoch gibt es viele Personen, die im August bereits vergessen haben, dass sie im Februar einen Versichertenausweis erhalten haben.

Die Medien berichten in den letzten Jahren vermehrt über die 2. Säule. Wirkt sich das positiv aus in Sachen Verständnis?

Die Berichterstattung hat massiv zugenommen. Wie viel Erkenntnisgewinn dies bringt, hängt aber sehr davon ab, ob Sie die NZZ oder das «20 Minuten» lesen – oder überhaupt eine Zeitung. Zudem wird in den Medien meist über die Probleme des Gesamtsystems berichtet, nicht aber über konkrete, für die einzelnen Versicherten relevante Fragen. Und auch wenn man nachvollziehen kann, dass der Umwandlungssatz gesenkt werden sollte, fällt es schwer, die Konsequenzen daraus für die eigene Rente zu akzeptieren.

Welche Elemente der beruflichen Vorsorge sorgen in der Praxis für die meiste Verwirrung?

Manchmal stolpern die Versicherten bereits über Kleinigkeiten, die für Kassenverantwortliche selbstverständlich erscheinen: So denkt man etwa, bei einer projizierten Rente von 10000 Franken, davon BVG 6000 Franken, könne man beide Beträge zusammenzählen. Häufig werde ich gefragt, wie es denn sein könne, dass eine Pensionskasse einen Umwandlungssatz von 5 Prozent hat, wo das Gesetz doch 6.8 Prozent vorschreibt. Unverständnis und Misstrauen kommt auch daher, dass die Pensionskassen gute Renditen erzielen und dennoch die Umwandlungssätze senken. Feine Unterschiede zwischen den Pensionskassen etwa bei der Gewährung von Konkubinatsrenten, der Behandlung von Einkäufen im Todesfall oder unterschiedliche Fristen beim Bezug des Alterskapitals werden als Schikanen und Stoppersteine empfunden. Gerade bei Konkubinatsrenten habe ich schon tragische Fälle erlebt, etwa wenn nach einem Stellenwechsel der neuen Kasse das Konkubinat nicht wieder gemeldet wurde. 

Die von Ihnen skizzierten Fälle lassen den Schluss zu, dass genau der Gestaltungsspielraum der einzelnen Pensionskassen, den die Branche als grosse Stärke der 2. Säule sieht, bei den Versicherten für grosse Verwirrung sorgt.

Das ist so. Was für das ganze System eine Stärke ist, davon bin ich als Pensionskassen-Experte überzeugt, macht die Sache für den einzelnen Versicherten komplizierter. Immerhin bringt es die laufende Konsolidierung mit sich, dass die Reglemente der einzelnen Kassen sich ähnlicher werden, auch die Sammelstiftungen nähern sich in vielen Formulierungen einander an.

Kann man denn einem System vertrauen, das man nur halb versteht?

Das ist ganz schwer. Das System scheint in seiner Komplexität zu implodieren. Wenn ausser den Experten keiner mehr versteht, wie die Rente berechnet wird und Schattenrechnung über Schattenrechnung und ellenlange Übergangsfristen die Berechnungen unverständlich machen, muss sich niemand wundern, wenn das Volk der 2. Säule den Rücken zukehrt.

Für die anstehende BVG-Reform gibt es zwei Stossrichtungen zur Kompensation der Umwandlungssatzsenkung – kassenindividuell dort, wo es nötig ist, sprich bei BVG-nahen Löhnen, oder mit Umlagekomponente und einem Rentenzuschlag nach dem Prinzip, alle zahlen und alle betroffenen Jahrgänge bekommen etwas. Welche Lösung ist verständlicher?

Als Experte befürworte ich klar die Lösung des ASIP, schon wegen der Kosten und der Beibehaltung des Systems. Das Verständnis in der Bevölkerung ist für beide Lösungen schwer zu wecken.

An der Eintrittsschwelle wird in den Reformvorschlägen nicht geschraubt, aber am Koordinationsabzug – wie gut verstehen die Menschen diese beiden Werte?

Für die tiefen Löhne und die Teilzeitbeschäftigten ist sowohl die hohe Eintrittsschwelle wie der fixe Koordinationsabzug schlecht. Da die Teilzeit vor allem bei den Frauen, aber zunehmend auch bei den Männern ein grosses Thema ist, müsste der Koordinationsabzug auf Gesetzesstufe nach dem Beschäftigungsgrad definiert werden, was bei guten Kassen längst üblich ist. Uns begegnen immer wieder alleinerziehende, geschiedene Frauen mit schlecht bezahlten Teilzeitjobs, die es nie auf einen grünen Zweig bringen in der Pensionskasse.

Was müsste aus Ihrer Beratungserfahrung in einer BVG-Reform geändert werden, um die Verständlichkeit generell zu erhöhen?

Eine radikale Vereinfachung des Systems scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Seit 1985 sind Gesetz und Verordnungen derart angewachsen, dass nur die Fachleute den Überblick haben, wenn überhaupt. Liesse man den Koordinationsabzug ganz weg und würde ein System etabliert, das keine Schattenrechnung mehr nötig machen würde, wäre für die Verständlichkeit schon einiges getan.

 

Verein unentgeltliche Auskünfte für Versicherte von Pensionskassen

Der Verein unentgeltliche Auskünfte für Versicherte von Pensionskassen (kurz: BVG-Auskünfte) wurde im Jahr 1998 durch engagierte Fachleute aus dem Bereich der beruflichen Vorsorge gegründet. Vater des Gedankens war und ist es heute noch, den Versicherten von Pensionskassen und deren Angehörigen eine unabhängige und unentgeltliche Beratung zur Verfügung zu stellen.